Rhetorik & Neurowissenschaft

Wie Erwartungen Ihre Wahrnehmung beeinflussen

Kennen Sie das? Sie sitzen in einer Veranstaltung und sind echt begeistert von der Rednerin und ihrer Präsentation. Danach unterhalten Sie sich mit einem Kollegen über ebendiese Präsentation. Obwohl Sie beide dieselbe Rednerin gesehen und gehört haben, unterscheiden sich die Wahrnehmungen von Rede und Rednerin. Während Sie die Rednerin als absolut kompetent wahrgenommen haben, meint Ihr Kollege, sie sei ihm definitiv zu arrogant gewesen. Wer hat Recht? Welche Wahrnehmung ist richtig?

Die Antwort ist relativ einfach: beides stimmt. Wie das?

Wahrnehmung in den Neurowissenschaften

Die aktuelle Forschung in den Neurowissenschaften geht davon aus, dass das Gehirn unsere Wahrnehmung ‹macht›. Was wir als Menschen mit unseren Sinnen wahrnehmen, bildet nicht die objektive Wirklichkeit ab. Vielleicht erinnern Sie sich an „Das Kleid“, welches für die einen blau-schwarz gestreift ist und für die anderen gold-weiss. Und das obwohl alle dasselbe Bild sehen. Auch stimmt für jede Person die Farbkombination, die er oder sie auf dem Bild sieht. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen kommen daher, dass die Verteilung der Licht-Rezeptoren in den Augen, von Mensch zu Mensch leicht unterschiedlich ist. Dadurch verarbeiten einige Leute Gelbtöne weniger genau (das Kleid ist blau-schwarz) und andere Blautöne weniger genau (das Kleid ist gold-weiss).

Das ist aber noch nicht alles: die Licht-Rezeptoren leiten das Bild ans Gehirn weiter, dieses beurteilt noch zusätzlich, in welchem Licht-Kontext das Bild gemacht wurde: Unter starker Sonneneinstrahlung (das Kleid ist blau-schwarz) oder unter normalen Lichtverhältnissen. Wer Fotografiert, kennt diesen Prozess selber als den Weissabgleich. Genauso macht es auch unser Gehirn. Einige Forscher gehen davon aus, dass Leute, die mit Fotographie zu tun haben (sich also häufig mit Farben und Schattierung beschäftigen) das Kleid eher als schwarz-weiss wahrnehmen.

Was Sie wahrnehmen ist also eine Kombination aus Ihrer Biologie und Ihrer Erfahrung mit dem Wahrnehmungsgegenstand.

Die Psychologie und Neurowissenschaft gehen davon aus, dass aus diesen Erfahrungen Erwartungen gegenüber der Umwelt gebildet werden. So ist das Gehirn uns als Handelnde oft weit voraus. Zum Beispiel werden Bewegungen im Gehirn bereits geplant, bevor Ihnen bewusst ist, dass Sie diese ausführen wollen. Das Gehirn geht also mit in Erfahrungen begründeten Erwartungen an die Welt heran. Das ist durchaus sinnvoll, denn so müssen Sie nicht jede Situation komplett neu beurteilen und können auf ebendiese Erfahrungen zurückgreifen.

Meine Kollegin Dr. Frederike Petzschner bringt dies im Interview oben auf den Punkt: «Wahrnehmung ist immer eine Kombination von dem, was wir sehen, hören, schmecken, riechen, ertasten plus Vorerwartung».

Wahrnehmung in der Rede

Was hat das nun mit der eingangs geschilderten Szene zu tun?

Sie können davon ausgehen, dass Sie und Ihr Kollege nicht die genau gleichen Erfahrungen in Ihrem Leben gemacht haben und sich dadurch in Ihrer Erwartungshaltung unterscheiden. Sie nehmen dieselbe Situation dadurch automatisch unterschiedlich wahr.

Die Frage, welche der beiden Wahrnehmungen stimmt, erübrigt sich also. Macht aber einer anderen, viel interessanteren Frage Platz: Warum wirkt die Rednerin so wie sie wirkt?

Welche Verhaltensweisen, Merkmale, Sinneseindrücke führen bei Ihnen dazu, dass die Rednerin kompetent wirkt? Vielleicht wirkt sie sicher. Weshalb? Weil sie flüssig spricht, nicht stockt. Weil sie einen festen Stand hat und vielleicht auch weil sie einen eleganten Hosenanzug trägt. Vielleicht ist es auch etwas anderes. Lassen Sie sich ruhig auf das Gedankenspiel ein, es ist spannend und kann sehr aufschlussreich sein: Was macht für Sie eine kompetent wirkende Person aus?

Dieselben Merkmale und Verhaltensweisen, welche für Sie unter «kompetentes Auftreten» fallen, können für eine andere Person unter «Arroganz» verbucht werden. Beispielsweise könnte es Ihr Kollege öfter mit Menschen im Hosenanzug zu tun gehabt haben, welche flüssig sprechen und arrogant sind. Sie hingegen könnten mehr positive Erfahrungen mit Leuten gemacht haben, die sich auf diese Art kleiden. Wenn Sie die Rednerin als kompetent erfahren haben, erwarten Sie unter Umständen von einer kompetenten Person, dass sie schnell und ohne Unterbruch spricht. Die unterschiedlichen Erwartungen Ihrerseits und Ihres Kollegen führen also dazu, dass Sie die Rednerin unterschiedlich wahrnehmen und dass dies für Sie beide stimmt.

Konsequenzen für Sie als Redner*in

Was bedeutet das für Sie, wenn Sie einen Auftritt haben? Für Sie als Redner/in heisst das zum einen, dass sich die Wahrnehmung Ihrer Rede von Zuhörer zu Zuhörer unterscheiden kann und dass Sie auf einen Teil dessen, was diese Wahrnehmung auslöst, keinen Einfluss haben. Dies liegt in der Natur der Sache und ist nicht weiter schlimm.

Für Sie als Redner/in bedeutet das aber auch, dass es einen Teil der Wahrnehmung gibt, den Sie beeinflussen können, nämlich die Merkmale und Verhaltensweisen, aufgrund derer sich die Wahrnehmung Ihrer Person und Rede entwickelt wie auch die Erwartungen Ihres Publikums an Sie und Ihre Rede.

Wenn Sie also auf die Wahrnehmung Ihres Publikums Einfluss nehmen möchten, lohnt es sich, sich folgende Punkte zu vergegenwärtigen:

  1. Finden Sie heraus, wie Sie wirken: Welche verschiedenen Wahrnehmungen lösen Sie aus? Beauftragen Sie ein paar wohlgesinnte ZuhörerInnen Ihrer nächsten Präsentation damit, genau hinzuschauen, was bei ihnen welche Wahrnehmung auslöst. Sie erfahren so viel über die Bandbreite Ihres Wirkungsspektrums.
  2. Was wollen Sie ändern? Entscheiden Sie sich dafür, welche der wirkenden Verhaltensweisen Sie nächstes Mal ändern oder anpassen wollen. Das ist nicht einfach und braucht viel Übung, ist aber möglich.
  3. Welche Erfahrungen und Erwartungen hat das Publikum? Machen Sie sich vor Ihrer nächsten Präsentation über Ihr Publikum schlau. Handelt es sich um Leute, die ein bestimmtes Auftreten gewohnt sind? Was erwartet das Publikum von Ihnen? Welche Art Vorträge, Redner, Experten ist das Publikum gewohnt?

Punkt 2 macht übrigens einen grossen Teil meiner Coachings und Kurse aus, das heisst: Nicht verzagen, wenn es nicht gleich klappt! Mit der Devise, nicht zu viel auf einmal wollen, dranbleiben und ausprobieren, fahren Sie dabei gut.

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